Wolf Lepenies: Augenvertrauen und Herzlichkeit: Heinz Kassungs Bilder
Laudatio anlässlich der Verleihung des Kulturpreises der Stadt Koblenz 2005
Als der große englische Kritiker Samuel Johnson einmal gebeten wurde, die Gesammelten Werke eines Autors namens Robinson zu besprechen, weigerte er sich mit den Worten: "Robinson ist mein -Freund und er soll es auch bleiben - und darum will ich über seine Bücher lieber nichts sagen!"
Heinz Kassung ist mein Freund - und es ist mir eine Ehre und eine Freude, heute über ihn und seine Bilder zu sprechen. Ich hoffe, dass er auch nach dieser Laudatio noch mein Freund sein und bleiben wird.
Den Kulturpreis 2005 der Stadt Koblenz erhält ein Koblenzer: Hier wurde Heinz Kassung 1935 geboren. Als er im Jahre 2003 den Hanns-Sprung-Preis der Arbeitsgemeinschaft bildender Künstler Mittelrhein erhielt, veröffentlichte Heinz Kassung einen Auswahlkatalog seiner Werke - mit einer eindrucksvollen autobiographischen Skizze. Die Überschrift lautet: Wie sich alles so ergeben hat. Ich lese Ihnen daraus den ersten Absatz vor:
„Wenn ich an meine frühe Kindheit zurückdenke, so gibt es viele schöne Erlebnisse und Erinnerungen. Mein Vater wurde am 7. Mai 1892 geboren und war von Beruf Malermeister, ein Meister alter Schule. Er selbst war der Älteste von fünf Geschwistern. Zu Hause führten sie, wie er mir immer erzählte, ein bescheidenes Leben. Mein Großvater arbeitete wie fast alle Männer des kleinen Ortes Fachbach an der Lahn bei den Drahtwerken Schmidt. Bei Wind und Wetter, Sommer wie Winter, gingen die Männer morgens um fünf Uhr zur Arbeit und kamen erst am späten Abend nach Hause. Meine Großmutter betreute zusätzlich eine kleine Landwirtschaft; eine Kuh, ein paar Ziegen und Hühner, doch von allem gerade nur so viel, dass die Selbstversorgung gewährleistet war. Alle Brüder erlernten ein Handwerk.“
Damit ist das entscheidende Stichwort gefallen: Handwerk.
Dass Heinz Kassung seihen Vater einen Meister alter Schule nennt, drückt die hohe Achtung des Sohnes für den Vater aus, den er bereits im Alter von 21 Jahren verlor. Darin zeigt sich aber auch das Selbstverständnis des Künstlers Heinz Kassung: Er weiß, dass gelingende Kunst auf handwerklichem Können beruht. In der Kunst ist es nicht anders als in der Wissenschaft: Wer sein Metier nicht beherrscht, wer seine Werkstoffe nicht genau kennt und seine Werkzeuge nicht präzise zu nutzen versteht, wird es zu nichts Großem bringen. Er wird aufgeblasenes Zeug fabrizieren: ein Nadelstich genügt und die Überheblichkeit fallt in sich zusammen. Heinz Kassung hat immer mit Hochachtung von den Kölner Werkschulen gesprochen, an denen er von 1952 bis 1958 studierte. Dort wurde er zu einem hervorragenden Handwerker ausgebildet - und bildete sich dadurch selbst zum Künstler. Heinz Kassungs Lehrer waren klug und erkannten dies und so wurde er - ein wenig zu seiner eigenen Überraschung - Meisterschüler bei Professor Vordemberge.
Es ist schon fast fünfzig Jahre her, da bin ich Heinz Kassung zum ersten Male begegnet. Es war im Jahre 1960. Der künftige Kulturpreisträger sah auf mich herab. Denn ich machte damals etwas ganz Unoriginelles, Dutzende in Koblenz machten es zur gleichen Zeit: Abitur - am später so genannten Eichendorff-Gymnasium. Heinz Kassung aber machte etwas Originelles, das in Koblenz nur er alleine machen konnte. Und so kam es, dass ich inmitten des Fußvolks in der Schlossstrasse stand - und Heinz Kassung auf mich herabsah, von der Höhe seines Prunkwagens, auf dem er am Rosenmontag durch Koblenz fuhr, dort als der zweite Karnevalsprinz thronend, den die Funken Rot-Weiß stellen durften: "Heinz der Maler" war seine Amts- und Ehrenbezeichnung. Nun machte ich den Versuch, auf ihn herabzusehen: "Heinz der Maler" - es konnte sich doch nur um einen Anstreicher handeln!
Man sieht: Ich hatte zwar das Zeugnis der Reife in der Tasche - und war doch immer noch unerfahren in den wichtigen Dingen des Lebens. Ich hatte nicht nur von der Tätigkeit und dem Talent Heinz Kassungs, sondern auch von Kunstgeschichte keinen blassen Schimmer. Dass beispielsweise Lucas Cranach nicht der einzige Maler gewesen war, der eine Zeit lang als Anstreicher seinen Lebensunterhalt verdienen musste, hätte meinem Hochmut bereits einen Dämpfer geben müssen. Nun war Heinz Kassung kein Anstreicher - aber er stand von Anbeginn mit seinen Bildern in der Tradition einer unterschätzten Malerei, die sich ihre Reputation im Gang der Kunstgeschichte erst mühsam erkämpfen musste. Von dieser unterschätzten Malerei muss man sprechen, wenn man die Kunst Heinz Kassungs verstehen will.
Ich meine das Stilleben.
Neben seinen geliebten Clowns und Artisten hat Heinz Kassung vor allem Stilleben gemalt, cose naturali, wie sie bei den Italienern im 16. Jahrhundert heißen; wenig später sprechen die Franzosen von nature morte. Ursprünglich bezeichnet das Stilleben kein Genre der Malerei, sondern nur die Kategorie der gemalten Gegenstände, ein flämisches Stilleben beispielsweise trägt den Titel "Teile einer aufgetragenen Mahlzeit". In der Wertung der Genres rangiert das Stilleben ganz am Ende - nach der Historienmalerei und den Porträts; auch lebende Tiere und Landschaften zu malen, sieht man als weitaus schwieriger an. Stilleben gelten als nichts Besonderes, sie repräsentieren eine typische Alltagskunst. Man strengt sich bei der Suche nach Motiven nicht übermäßig an, man erfindet nichts, man malt ab, was man eben vorfindet: die Stilleben-Maler gelten lange Zeit als bieder, arm an Phantasie und als Genies der Faulheit.
Gerade deshalb haben die Stilleben-Maler ihr bescheidenes Genre stets als Herausforderung empfunden. Das gilt schon für die Antike: von Zeuxis hieß es bewundernd, Vögel hätten versucht, die von ihm gemalten Traubeh aufzupicken. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kommt dann die Nachahmung der Natur allmählich an ihr Ende, sie ist gleichsam ausgemalt worden, sie hat sich erschöpft, alle ihre Gegenstände gelten nun als gleichberechtigte malerische Sujets. Das aber heißt, sie sind für uns gleich gültig geworden, gleichgültig. Die Langeweile, die dadurch entsteht, kann man bei einem großen Amateur-Kritiker nachempfinden, bei Theodor Fontane, der in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts regelmäßig die Berliner Kunstausstellungen besucht hat. Fast verzweifelt versucht er, unter den Hunderten von Stücken bemalter Leinwand etwas Neues und Interessantes zu entdecken, immer wieder blicken ihm die gleichen Sujets entgegen, Schlachten, der Kaiser hoch zu Ross, jede Menge Hühnerhöfe und der Sonnenuntergang in der Heide - nur allzu selten blitzt dazwischen ein Menzel auf und erleuchtet erbarmungslos das graue Mittelmass, das ihn umgibt. Diese Gleichgültigkeit der Gegenstände zu überwinden, wird zur entscheidenden Herausforderung der Moderne. Mit "gegenstandsloser Malerei" - ein Begriff, den Heinz Kassung völlig zu Recht zurückweist - hat das überhaupt nichts zu tun.
Wie gelingt es nun, wieder unser Interesse für die Gegenstände zu wecken? Wie überwindet man die Gleichgültigkeit gegenüber der Welt der Objekte? Auf diese Fragen muss der Künstler der Moderne eine Antwort geben. Heinz Kassung hat es auf seine besondere Weise getan. Seine Bilder erinnern mich an einen großen Stilleben-Meister, der seine Werke im Pariser Salon von 1763 ausstellte. Bei allen anderen Gemälden des Salons, so schrieb damals ein zeitgenössischer Kritiker, habe man den Eindruck, man müsse sich schleunigst neue Augen anschaffen. Der gepriesene Meister dagegen verlangte viel mehr: dem Betrachter wurde deutlich, dass er sich seiner eigenen Augen auf eine ganz andere, vollkommen neue Art bedienen musste.
Heinz Kassung geht es nicht darum, um jeden Preis Neues zu entdecken oder dem Betrachter Neues vorzugaukeln. Er erlaubt sich keine stilistische Aufregung vor harmlosen Sujets - wie man boshafter Weise einmal den Expressionismus karikiert hat. Heinz Kassung versucht, Bekanntes so präzise wie nur möglich zu sehen und Unbekanntes zu Bekanntem in eine plausible Beziehung zu setzen. Damit dies gelingt, muss man sich seines Blicks sehr sicher sein. Hier nun kommt eine Haltung ins Spiel, die mir für das Werk Heinz Kassungs charakteristisch zu sein scheint. Ich nenne sie Augenvertrauen. Wie wichtig dieses Augenvertrauen ist, hat Theodor Fontane, ohne den Begriff zu verwenden, auf eine wunderbare, bis heute unübertroffene Weise zum Ausdruck gebracht: "Die bildende Kunst ... wendet sich an die Sinne; das Auge ist die Straße, auf der sie zum Herzen vordringt, und jedes Bild, das dem Auge nichts bietet, weder Form noch Farbe, sondern lediglich Grau-Nebelhaftes, das phantastisch uns umstricken soll, verstößt gegen die Grundgesetze bildender Kunst."
Zum Augenvertrauen gehört die Konzentration auf Oberfläche und Außenhaut - es ist für den Betrachter immer besser, sich selbst Tiefe hinzuzudenken, als sie sich malerisch aufschwatzen zu lassen. Heinz Kassungs Bildern fehlt jede Geschwätzigkeit. Ein großer Kenner der modernen Malerei, Arnold Gehlen, hat das Lob der Nicht-Geschwätzigkeit auf eine ebenso einfache wie einprägsame Formel gebracht: "Bei einem guten Bilde ist heute nicht mehr dahinter als darauf ist." Dies gilt auch für die Bilder Heinz Kassungs.
Heinz Kassung ist ein wissender Maler - sein Wissen speist sich aus einfem präzisen Blick. Bilder sind freilich keine Ab-Bilder. Die Staffelei Heinz Kassungs, der alles andere ist als ein malender Stubenhocker, steht nicht in der freien Natur, sondern im geordneten und ordentlichen Atelier in Bubenheim. Im direkten Wortsinne kann bei ihm nicht von gegenständlicher Malerei die Rede sein: Heinz Kassung bildet keine Objekte ab, sondern rekonstruiert malend die Welt. Seine Bilder sind aber auch nicht abstrakt: mit großer Disziplin verwehrt er Auge und Hand, sich dem bloßen Spiel der ungezügelten Phantasie zu überlassen. Formgefühl und Farbsinn stehen dabei an erster Stelle - Farbsinn vor allem. Heinz Kassung ist ein kluger Farbenmeister - und seine Klugheit zeigt sich nicht zuletzt darin, dass auf seinen Bildern die Farben nicht stumm nebeneinander stehen, sondern sich etwas zu sagen haben. Er hat die schwierigste Aufgabe gelöst, die es in der Malerei gibt: eine zugleich gegenständliche und flächenunmittelbare Bildwirkung aus der Farbe heraus zu erzielen.
Heinz Kassungs Bilder bleiben dabei auf eine überaus sympathische Weise offen und zugänglich; der Künstler vermittelt seinem Publikum die Einsicht, dass es sich beim Malen stets um einen Prozess handelt, um ein riskantes Probehandeln, um ein Probieren und Basteln, das zwar einmal ein Ende haben muss, aber kein beliebiges Ende haben darf. Heinz Kassungs beste Bilder zeigen, dass der gute Maler weiß, wann er mit dem Malen aufzuhören hat.
Jeder Maler muss sich im Rahmen halten. Im kleinen Ausschnitt eines bestimmten Objektbereichs spiegelt er die Außenwelt. Erst die Intensität in der Beschränkung, die Konzentration auf das Wesentliche lassen uns die große Welt erahnen. Diesen weltöffhenden Impuls spürt man in den Bilderrt Heinz Kassungs. Die Artisten und die Clowns - sie sind seine frühen Leitmotive und Markenzeichen und zugleich allgemeingültige Symbole: in ihnen spiegeln sich die Riskiertheit einer Bewegung, die Bedrohung einer Existenz. Die Hummer und die Fische und die Spargel - sie erwecken, denn Heinz Kassung meint es gut mit seinen Gästen, angenehme kulinarische Assoziationen und sind doch zugleich Zeichen höchster malerischer Konzentration, die Form und Farbe in eine überzeugende Stimmigkeit bringt. An den Bildern Heinz Kassungs, die nie maßlos sind - auch in der Auswahl der Formate zeigt sich seine malerische Klugheit - wird deutlich, dass künstlerische Leistung sich auch an der Fähigkeit misst, im Rahmen zu bleiben und selbstgesetzte Grenzen einzuhalten. Die Malerei Heinz Kassungs ist dort, wo sie beglückend gelingt, ausgesprochen diszipliniert und dort, wo sie anrührt, besonders sorgfältig durchdacht. Auch dem Laien fällt auf - ich komme auf das Leitmotiv des Anfangs zurück - dass es sich um eine Malerei handelt, die sich als Handwerk ernst nimmt, um eine Malerei, in der Empfindungen und Stimmungen durch präzise malerische Verfahren gebändigt und kontrolliert werden. Sinnlich erscheinen diese Bilder nicht zuletzt dadurch, dass ihre durchkomponierte Farbigkeit "stimmt". Es geht dabei in erster Linie um die malerische Technik - und nicht um die Aufgeregtheit des Malers, der seine eigenen Seelenzustände dem Betrachter aufzwingen will. Man muss ein Meister sein, d.h. sein Metier von Grund auf beherrschen, wenn man Werke schaffen will, welche die Zeit überdauern. Auch daran erinnern uns die Bilder Heinz Kassungs.
Künstler sollen ihre Werke bekanntlich bilden - und nicht darüber reden. Im Übergang zur Moderne und mit der wachsenden Krise der Gegenständlichkeit bleibt auch der Betrachter vor Bildern am besten sturhm - "parier peinture", wie die Franzosen es nennen, ist eigentlich unmöglich. Über Musik kann man übrigens viel leichter sprechen - denn es gibt eine Schrift, in der Musik sich präzise ausdrücken lässt: die Notenschrift. Für Gemälde aber gibt es keine Partitur. So kommt es, dass Leute, die ein Bild erklären wollen, gewöhnlich den falschen Baum hinaufbellen, wie Picasso es sarkastisch ausdrückte.
Auch ich habe jetzt - fast - ausgebellt.
Ich habe Ihnen den Lebensweg Heinz Kassungs nicht geschildert - und ich habe nicht versucht, sein großes malerisches CEuvre umfassend zu beschreiben. Ich musste mich mit Ausschnitten begnügen. Auf drei Dinge will ich Sie aber noch aufmerksam machen. Erstens: der Kulturpreis der Stadt Koblenz bedeutet dem Koblenzer Heinz Kassung mit Sicherheit besonders viel. Aber: es ist nicht der erste Preis, den er erhalten hat - und es wird wohl auch nicht der letzte sein. 1979 bereits erhielt er die Verdienstmedaille der Arbeitsgemeinschaft bildender Künstler Mittelrhein, 1987 den Kunstpreis des Landes Rheinland-Pfalz, im Jahr darauf das Burgund-Stipendium. 1996 wurde er für sein künstlerisches Gesamtwerk ausgezeichnet und 2003 erhielt er, wie bereits erwähnt, den Hanns-Sprung- Preis der Arbeitsgemeinschaft bildender Künstler Mittelrhein. Es fällt auf, dass viele dieser Preise ihm von Kollegen verliehen wurden, ein Zeichen dafür, dass Heinz Kassung, der wie jeder Künstler Einzelgänger ist und seinen ganz eigenen Weg geht, zugleich ein großes Talent für Freundschaft und Kollegensolidarität besitzt. Zweitens: Heinz Kassung hat sich in bewundernswerter Weise für die Kunst und die künstlerischen Kontakte in Europa engagiert. Nach dem Wunderjahr 1989, in dem die Mauer fiel, galt dies nicht zuletzt für Mittel- und Osteuropa, für Russland, Aserbaidschan und Ungarn - dort wurde ihm 1992 die "Csontväry-Plakette" verliehen. Und er ist Präsident der Internationalen Künstlergemeinschaft "Europa 24". Drittens: Heinz Kassung ist in Koblenz geboren und er ist Koblenzer geblieben. Etwas zutiefst Bodenständiges haftet an ihm, das mit Provinz nichts und viel mit Heimat zu tun hat. Auch deshalb trifft der Kulturpreis der Stadt Koblenz nicht nur einen Würdigen, sondern den Richtigen.
Zum Schluss muss jetzt noch ein Wort fallen: Herzlichkeit. Herzlichkeit charakterisiert den Menschen Heinz Kassung, aber Herzlichkeit kennzeichnet auch seine Kunst. Ich denke dabei an den von Theodor Fontane bereits zitierten Satz, das Auge sei die Strasse, auf der die bildende Kunst zum Herzen vordringt, und ich denke an einen anderen Kritiker, der schrieb, alles käme heute darauf an, "die Kunst in die Reichweite der Begabung unserer Herzen zu rücken". In diesem Sinne gehen die Bilder Heinz Kassungs zu Herzen.